Kapitel 17: Notwendige Maßnahmen
Shade saß in seinem Zimmer. Er hatte auch als Rang-1-Kartenjäger nie ein größeres gewollt auch wenn er schon in die luxuriösesten Suiten umziehen könnte. Er war eh nicht oft in der Zentrale. Aber jetzt mit Ausgangssperre kam ihm alles so eng und unbehaglich vor. Wenn er früher nur ein Bett gebraucht hatte um zwischen zwei Aufträgen zu schlafen, so wünschte er sich jetzt Bilder, Pflanzen, irgendwas um das Ausharren in dieser Einöde angenehmer zu gestalten. Shade hatte bestimmt schon drei dicke Wälzer verschlungen. Aber neuzeitige Literatur war doch irgendwie immer dasselbe.
Jetzt lag der gelangweilte Mann auf dem Bett und seufzte. Er hasste es, vor die Tür zu gehen. Alle starrten ihn an oder wollten was von ihm hören. Viel reden war aber bekanntlich nicht seine Stärke. Trotzdem konnten es die anderen nicht lassen, ihn zuzutexten. Es nützte nichts. Er brauchte einfach Abwechslung. Zudem ließ ihn dieses unangenehme Gefühl nicht los, dass die Suche nach der Bedrohung aus dem Untergrund in der Bürokratie der Zentrale untergehen würde und wenn er selber nichts unternahm, alles schlimm enden würde. Also musste er zudem einen Weg finden, etwas über die Seelenkarten-Besitzer aus Neu-Noah in Erfahrung zu bringen und das ohne die obere Stadt zu verlassen.
Es war erstaunlich wenig los in dem großen Gebäude. Nur ein paar Kartenjäger-Neuzugänge lungerten auf den Gängen rum. Natürlich erkannten sie die Berühmtheit aber keiner traute sich ihn anzureden. Das war Shade nur Recht.
Er trank einen Milchkaffee in der oberen Lounge. Man hatte einen prima Ausblick auf die künstlich erleuchtete Stadt Noah. Die Wolkenkratzer und Häuserschluchten faszinierten Shade in ihrer Tiefe immer wieder. Es war ein Wunder, solche Bauten in dieser Zeit und Umgebung zu errichten. Die Menschen wussten das und schätzten ihre Stadt. Es gab kaum Kriminalität und politische Unruhen. Aber ganz ausschließen ließ sich so was in einer Gesellschaft natürlich nicht.
Nach einem ausgiebigen Frühstück nahm Shade den Fahrstuhl hinunter in die Trainingsräume. Hier gab es alles von Fitness-Centern über Simulatoren bis zu der Arena in der man den Ernstfall gegen echte Monster und Fallen nachstellen konnte. Das war die härteste Prüfung für die Anwärter und auch für erfahrene Kartenjäger stets ein Risiko. Doch wie sollte man dort draußen überleben, wenn man nicht in einem simulierten Kampf gegen ein reales Monster bestand? Die Arena war ein wichtiger Teil ihrer Ausbildung.
Selbst Shade musste diese Einrichtung ab und zu besuchen, denn dort wurde die aktuelle Stärke eines Kartenjägers analysiert und ermittelt. Wie gesagt kämpfte man dort gegen die wahren Schrecken aus den Seelenkarten. Je nachdem wie stark die Gegner waren, die man besiegen konnte, wurden Angriffspunkte, Verteidigungspunkte und eine Stufe für den jeweiligen Kartenjäger errechnet. Dies war notwendig um einen Bezug zu den echten Bedrohungen herstellen zu können und die richtigen Aufträge an die Jäger auszuteilen.
Shade sah sich die Rangliste an. Er war immer noch der Spitzenreiter mit 1400 Angriffspunkten, 1200 Verteidigungspunkten und Stufe 4. Einige seiner besseren Kollegen eiferten ihm nach, doch insgesamt gab es nur vier Kartenjäger in Noah, die vierstellige Werte erreichten. Den besten Wert aller Zeiten hatte Jack erreicht. Wehmütig schaute sein Lehrling in die Rekorde und sah die unglaubliche Zahl an der Spitze stehen. 1800 Angriffspunkte, 1600 Verteidigungspunkte und Stufe 6. Nahe am Maximum. Über 2000 Punkte konnte von einem Menschen mit noch so viel Kampfgeschick und der Kartenjäger-Ausrüstung nur erreicht werden indem man heftigere Waffen, Technologie oder einfach Karten einsetzte. Natürlich konnte man Monster zur Verstärkung rufen oder sich mit Zaubern und Fallen verstärken, doch darum ging es nicht in der Arena. Mit nichts weiter als der Klinge der Duel-Armor und den spärlichen aber leichten Kampfanzügen musste man ein Ungeheuer bezwingen. Bisher war zum Glück noch niemand gestorben aber es gab schon den einen oder anderen knappen Moment. Nicht immer ließen sich die Monster hundertprozentig kontrollieren. Aus dieses Grund wurde man auch nur gut vorbereitet und Topfit in diese Anlage geschickt.
Man mag sich jetzt fragen, wozu das Ganze? Wenn man schon Monster in den Kampf gegen die Gefahren da draußen schicken konnte, wozu noch selber kämpfen?
Nun war es nicht gerade so, dass einem die Seelenkarten in den Schoß fielen. Für jede einzelne wurde sein Leben riskiert und nicht viele konnten ein vollständiges Deck in ihrer Duel-Armor platzieren um angemessen vorbereitet zu sein. Oft besaß man auch einfach nicht die Zeit dazu, ein Monster zu beschwören oder ihm Befehle zu erteilen oder man kämpfte in engen Räumen. Alles in allem genug Situationen in dem man selber Hand anlegen und die Monster mit Taktik und Mut angreifen oder schnell ausweichen und sich verteidigen musste. Wer selber nicht kämpfen konnte, hatte in der Welt da oben nichts verloren.
Als Shade oben in die Lounge der Tribünen kam standen dort bereits zwei Personen an den dicken Glasscheiben. Es war Rugis Trenblanc, der Polizeichef von Noah in Begleitung eines Oberkommissars des Sondereinsatzkommandos.
Sie überwachten die Kämpfe, die unten stattfanden. Zweimal im Jahr wurde die gesamte Polizeistaffel hier auf ihre körperliche und kämpferische Fitness geprüft. Dazu gehörten ein paar Duelle gegen schwächere Ungeheuer für gewisse Fälle. Für die Polizisten, die sonst nur den meist friedlichen Alltag in Noah und den Slums kannten, war dies immer ein besonderes Erlebnis. Viele kamen zum Sicherheitsdienst, weil sie aufgrund fehlender Voraussetzungen nicht zu Kartenjägern werden konnten. Shades "Beruf" war sicher der angesehenste in dieser Welt.
Trenblanc nickte Shade zu. Er mochte dessen stille Art nicht, doch wusste er um seine Verdienste für die Menschen ihrer Stadt.
"Sie sieht man auch nicht oft. Was gibt es? Haben sie Urlaub?"
Zum Glück schien Oberst Hagen seinen Hausarrest nicht an die große Glocke zu hängen, dachte Shade.
"Hmm.", machte der Kartenjäger und schaute sich die kämpfenden Männer und Frauen unten an.
Innerlich regte es Trenblanc auf, doch er blieb gelassen und fing an von seinen Leuten da unten zu prahlen.
"Dieses Mal sind so fitte Jungs dabei, dass es mich echt wundert wie wenig Kartenjäger-Lizenzen dieses Jahr zugelassen wurden. Was ist los bei euch? Sind wir euch nicht mehr gut genug?"
"Die Verluste halten sich in Grenzen."
Der Polizeichef verstummte und setzte einen finsteren Blick auf.
Er wandte sich wieder der Arena zu.
"Der da ist nicht schlecht.", meinte Shade und deutete auf einen jungen Mann der mit seinen Kollegen just in diesem Moment ein Feuergras niederrang.
"Oh, ja! Trek Neargin. Der Junge hat Pfiff, nicht nur taktisch im Kampf sondern auch in seinen Ermittlungen. Ein verlässlicher Mann. Er wird grad in den Slums eingesetzt."
"Interessant."
Eine Idee keimte in Shade auf. Er verließ ohne ein weiteres Wort mit Trenblanc zu wechseln die Lounge. Dieser sah ihm böse nach.
Trek kam als erster aus der Männerdusche und stellte fest, dass die Umkleide doch nicht ganz leer war. Dort an der Tür stand der wohl berühmteste Kartenjäger, der momentan in Noah weilte.
"Sh-Shade?!!"
Total irritiert und beschämt ließ der Polizist sein Handtuch über seine Blöße sinken.
"Ich will gleich mit dir reden in der Sportsbar. Allein!"
"Hä?!"
Geschockt ließ Trek sein Handtuch fallen. Schnell bückte er sich um es aufzuheben. Als er wieder aufsah, war der Eindringling verschwunden.
Was war denn das gewesen? Hatte er eben im Kampf eine auf den Kopf bekommen und fantasierte jetzt? Trek konnte sich an nichts dergleichen erinnern.
Für ihn war die lebende Legende Shade auch ein Idol. Er wäre auch gern Kartenjäger geworden aber hatte den Duell-Test nicht bestanden. Er war richtig schlecht in diesem Kartenspiel. Außerdem konnte er sich die ganzen Karten und ihre Eigenschaften einfach nicht merken. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Traum wohl nie in Erfüllung gehen würde. Doch was wollte der Mann, den er immer bewundert aber nie gedacht zu Gesicht zu bekommen hatte, jetzt mit ihm bereden? Und wie konnte er so schnell auftauchen und verschwinden?
Shade krabbelte durch die Lüftungsschächte. Er liebte diese Auftritte. Je schräger desto besser.
Schließlich fand Trek sein Vorbild an einem der kleinen Tische an den Glasfronten des kleinen Imbisses des Trainingsareals vor. Der Kartenjäger genoss einen Longdrink. Alle sahen sie an als der Polizist sich zu ihm setzte. Eine junge Kellnerin kam sofort angelaufen und nahm die Bestellung auf. Trek bestellte ein Bier. Es kam wenige Momente später. Solche Kundschaft saß hier wohl noch nie. Es war allgemein seltsam, Shade so ruhig und unbeschwert in der Öffentlichkeit zu sehen. Sonst konnte man nur auf großen Events der Kartenjäger einen Blick auf ihn werfen und das auch nur wenn man Glück hatte. Meist war er ja gar nicht in Noah. Kannte er überhaupt Freizeit? Es gab wohl keinen der seinen Job so ernst nahm. Und vor allem redete er nie mit jemandem.
Trek räusperte sich.
"Darf ich fragen ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?"
"Mehr oder weniger."
Shade lehnte sich zu ihm vor.
"Ich brauche deine Hilfe.", flüsterte er und kam damit gleich zum Punkt.
"Wie bitte?!"
Der laute Ruf zerstörte alle Geheimniskrämerei. Die war eh kaum gegeben, da sie alle anderen Anwesenden anstarrten und die Ohren spitzten.
"Psst!"
Shade duckte sich und wedelte mit der linken Hand um die Lauscher abzuwehren. Sie wandten sich wieder ihren Getränken zu und wurden rot.
"Das ist ein Auftrag den ich nur dir anvertraue. Das muss unter uns bleiben. Kann ich auf dich zählen?"
Trek wurde verdammt stolz als er das Vertrauen spürte das sein Idol in ihn steckte.
"Natürlich!"
"Wenn zu viele Informationen nach draußen sickern, sorgt das nur für unnötiges Chaos. Behalte einen kühlen Kopf!"
Der Polizist nickte: "Kein Problem!"
"Gut.", Shade legte unbeschwert drauf los. Es wäre kein Weltuntergang wenn Oberst Hagen hiervon erfuhr, doch der Öffentlichkeit wollte er sein Problem nicht wirklich anvertrauen. Trek aber schien der richtige Mann hierfür zu sein.
"Du musst für mich Nachforschungen in Neu-Noah anstellen."
Trek verstand. Es war nichts ungewöhnliches wenn die Kartenjäger die Polizei für Angelegenheiten beorderten, für die sie selber einfach keine Zeit oder Personal hatten, besonders wenn es um die Slums ging. Kartenjäger konnten nicht ohne weiteres nach unten. Es wurde ihnen von ihrer Organisation schlicht weg verboten aufgrund möglichem Aufruhrs. Doch die Geheimnistuerei machte das ganze wieder spannend.
"Ich glaube, dass dort unten etwas im Gange ist. Ich habe dort gegen Menschen gekämpft, die ganze Decks an Seelenkarten besaßen. Ich möchte, dass du für mich mehr über diese Personen in Erfahrung bringst."
Schon war Trek wieder so fassungslos wie kurz davor.
"Wie? Ich allein? Das sollte aber wirklich keine Aufgabe für einen Polizisten sein!"
"Ich weiß aber ich kann mich da momentan nicht drum kümmern."
"Und die anderen Kartenjäger? Ich meine das stellt doch offensichtlich eine Bedrohung dar, die es im Keim zu ersticken gilt!"
"Du hast es erfasst. Nur rührt hier keiner einen Finger ohne einen Beweis. Ich befürchte es wird eh nicht genug unternommen. Das ist eine große Aufgabe, ich weiß. Es wird gefährlich, deswegen bekommst du das hier von mir. Du kriegst das schon hin. Ich hab gesehen was du in der Arena geleistet hast."
Shade schob einen kleinen Gegenstand über den Tisch.
Eigentlich hätte Trek so etwas nie angenommen doch er wurde überrumpelt. Es war eine Karte. "Harpyen-Bruder".
Trek nahm die Karte intuitiv in die Hand. Da durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke.
"I-ist das etwa...?"
"Ja, halt das ja geheim. Es ist zu deinem Besten."
Der Gesetzeshüter sah, dass es keinen Ausweg mehr gab. Damit hatte Shade ihn tief in die Sache involviert und es galt, kein Wort darüber zu verlieren wenn er nicht in ernste Schwierigkeiten kommen wollte. Der Kartenjäger hatte ihm eine Seelenkarte gegeben. Das war eines der schwersten Vergehen, die man als solcher machen konnte. Trek war etwas schockiert von dieser Verantwortungslosigkeit, doch wusste er das Vertrauen in ihn zu schätzen und willigte ein, der Sache mit vollem Ernst nach zu gehen. Er hatte ja auch nicht wirklich eine Wahl.