Prolog
Zu altern ist widerlich, nicht wahr? Freut man sich noch des ersten Bartflaums, der einem als Jüngling als Zeichen der aufkeimenden Mannbarkeit gewachsen ist, so ist die erste Runzel im Gesicht gewiss kein Grund mehr zur Freude. Der Mensch wächst nicht mehr, er altert. Siecht dahin und geht zugrunde. Verlassen von seiner Jugend und deren Geist, ihrem Charme und ihrer Vitalität.
„Wo ist sie nur geblieben?“, fragt man sich. Die Antwort ist offensichtlich, weil sie ist verloren. Sie ist fort und das für immer. Wir schauen zurück und fragen uns, wo die Zeit geblieben ist.
Verweht vom Winde wie eine Spur im Sand der Zeit.
Und plötzlich werden wir uns bewusst, dass wir vollkommen unbedeutend und ein triefender Makel auf dieser Erde sind, der seine Sünden und Bürden stets auf die nächste Generation zu übertragen pflegt. Ein Schandfleck sind wir geradezu und nicht viel mehr. Biedern wir uns aber nicht selbst als höchstes Geschöpf auf Erden an?
Widerlich, sage ich!
(…)
„Und wenn schon“, sagt dann die andere Stimme, die des Verführers, in mir mit ihrem schmeichelndem Unterton. „Genieße es. Liebe deine schadhaften und schrecklichen Wünsche und Sehnsüchte.“ „Warum eigentlich nicht?“, frage ich mich dann. „Ist es wirklich so schlimm man selbst zu sein? Sollte man nicht sowohl mit den positiven, als auch mit den negativen Seiten des eigenen Selbst zurecht kommen? Und hat nicht auch alles seine guten Seiten? Warum auch nicht diese Eigenheit des Menschen?“
Vielleicht. Ich weiß es nicht.
(…)
Der Anblick des Vergänglichen aber widert mich trotzdem an, weil er mich meiner eigenen kurzen Lebensspanne bewusst werden lässt.
(…)
Aber das ist einer der vielen Fehler, die wir Menschen in uns tragen und irgendwo schäme ich mich auch dafür, aber in Momenten wie diesen weiß ich um jene eine Sache, die wir in unserem Herzen verstecken und dessen wir uns eigentlich nur zu sehr bewusst sind, es aber nicht eingestehen wollen, nämlich unserer eigenen Gier.
Ihr fragt mich, wonach ich selbst strebe? Ewiges Leben und ewige Jugend! Zu lange blieben einem jeden von uns die Portale des Lebens verschlossen und nun ist es viel zu spät, um umzukehren. Ungenutzt verstrichen die Jahre und was passiert mit uns? Dir? Mir? Wir siechen dahin und nehmen es hin. Können wir doch auch nicht anders, weil wir doch nichts anderes, als ein unbedeutendes Etwas sind, dessen Tage bereits von Geburt an gezählt sind.
Wieso aber sollte ich in den Geschichtsbüchern künftiger Generationen überleben wollen, wenn ich selbst erhalten bleiben könnte? Wieso ruhen und verwesen in einem hölzernen Sarg, inmitten nasser Erde begraben, wenn ich es genießen könnte, auf der Erde, unter der andere liegen, zu wandeln? Ich will doch nur leben. Ist das denn zu viel verlangt?
(…)
Umgeben bin ich nur von törichten Tölpeln, die ihr Geschenk von Mutter Natur nicht richtig zu würdigen wissen und es daher ungenutzt vergeuden. Stets muss ich ansehen, wie alles Leben entschwindet und das stimmt mich traurig. Sieht man sich um, dann erblickt man meist nur die Gegensätze, aber nie das Graue. Mischungen aus weiß und schwarz werden gerne ausgeblendet, denn - wie wir alle nur zu gut wissen - sind alle Übrigen stets, ganz gleich ob jung oder alt, „Die Anderen“.
Diese Bezeichnung resultiert aus dem Unwissen beider Fraktionen und dem mangelndem Verständnis füreinander. Jugend und Alter vertragen sich einfach nicht. Und doch… Was wäre so schlimm daran, wenn es nur einen gäbe, der alle Zeit und beide Menschengeschlechter überdauern würde?
Grau, nicht weiß, oder schwarz, müsste dieser jemand sein. Gesegnet mit der Frische der Jugend und dem Geist des Alten und dessen Weisheit. Schlussendlich bleibt für mich nur noch eine Frage offen:
Was würdet ihr dafür hergeben, wenn ihr stets aufs Neue eure Jugend wieder und wieder leben könntet?
Kapitel 1
Öde und trostlos. Das wären die ersten Worte gewesen, hätte er den Unterricht beschreiben sollen, dem er gerade beiwohnte. Den Kopf aufgestützt und mit halb geschlossenen Augen stierte er nach vorne und lauschte den Ausführungen des Biologielehrers, der versuchte, ihnen die Vorgänge der Mitose näher zu bringen. Ein überaus langweiliges Thema, wie er fand. Dennoch sah er sich gezwungen zuzuhören, denn Biologie war sein schlechtestes Fach und daher hatte er keine Wahl, ganz gleich, wie öde, oder trostlos dieser Unterrichtsstoff auch sein mochte.
Er seufzte kurz auf und warf einen Blick auf den Füller in seiner Hand, dessen Kappe er wieder und wieder drauf- und wieder absetzte. Es war zwar kein sinnvoller, geschweige denn unterhaltsamer Zeitvertrieb, dafür aber umso beruhigender; er hatte eh nichts Gescheites zu tun. Sollten die anderen ruhig den tristen Vorträgen von Hans lauschen, er würde es nicht tun, ganz gleich wie sehr er auch diesen Lehrer mochte und respektierte. Seine Interessen lagen in ganz anderen Bereichen, obgleich er sich selbst manchmal fragte, was das eigentlich für welche waren.
Kurz schweifte sein Blick nach links zu einigen Klassenkameraden, dann wieder nach rechts, hinaus aus dem Fenster. Er hoffte dort draußen, auf dem Schulhof, etwas Interessantes zu finden, wurde jedoch nicht fündig. Der Wind spielte sachte mit den Bäumen, ließ ihre Wipfel sich leicht biegen und ihre grünen Laubblätter rascheln, aber etwas Außergewöhnliches fand er nicht. Wieso denn auch? Zeit seines Lebens war er hier im Internat der Schule gewesen und verbrachte seinen tristen Alltag damit dem Unterricht beizuwohnen, zu schlafen und dann wieder herumzuschlendern. Manchmal träumte er auch vor sich hin, ganz so wie er es jetzt tat und vergaß dabei die Welt um sich herum. Oft hörte er nebenbei Musik, um sich zu entspannen. Selten kam es vor, dass er auch mal ein Gespräch mit einem Mitschüler führte, aber das war überaus rar, weil der Großteil der Schülerschaft ihn mied. Er war ein Außenseiter und ein Ausgestoßener.
Außerdem war er sich ganz sicher, dass es hier nichts gab, was ihn wirklich zu fesseln vermochte. Außer vielleicht einer Sache. Und die lag gänzlich außerhalb seiner Reichweite.
Schüchtern wandte er den Kopf nach links und blickte in die nächstgelegene Sitzreihe vor ihm. Dort sah er niemand geringeres, als Claudia. Ein junges Mädchen voller Lebensfreude und mit ungeheurer Selbstsicherheit, was wohl daran lag, dass sie überaus attraktiv und daher entsprechend beliebt bei den Mitschülern war.
Sie trug, wie üblicherweise auch, ein schwarzes, ärmelloses Top und eine recht weite, luftige Hose, die gleichfalls einen schwarzen Farbton hatte. Ihr langes, dunkelbraunes Haar berührte dabei knapp ihre Schultern und umspielte ihr schmales, weiches Gesicht. Abermals bemerkte er, dass sie ihre Haare scheinbar gerne offen trug.
Ihre sinnlichen graugrünen Augen aber, die sanft schimmerten, waren nach vorne gewandt und blickten Dr. Hans Acula an, der weiterhin etwas über den überaus langweiligen Vorgang der Mitose erzählte. Nebenbei notierte sie sich das, was er sagte und wandte sich dann wieder den Worten des Lehrers zu. „Was für ein langweiliges Thema.“, dachte er noch im selben Moment, als sein Blick kurz nach vorne schweifte, dann konzentrierte er sich wieder auf Claudia.
Ihr Mund war leicht geöffnet, was nichts anderes hieß, als dass sie dem Unterricht gebannt folgte. Sie schien überaus interessiert und wollte offenbar mehr erfahren. Dass sie von ihm beobachtet wurde, bemerkte sie nicht mal. Er konnte einfach nicht anders, wann immer er sie sah, vergaß er alles um sich herum, so auch dieses Mal. Sein Blick fixierte sich nun gänzlich auf jene Lippen, die ihn an rosa Blütenblätter einer geöffneten Blume erinnerten. Sie wirkten sanft und sinnlich und vollkommen ungeküsst. Sie waren schön anzusehen und…
„Sissy!“, zischte es plötzlich von hinten. Chad zuckte zusammen. Hatte man etwa bemerkt, dass er Claudia angestarrt hatte? Er fühlte sich ertappt, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Zaghaft versuchte er, seinen Blick nun wieder auf Hans zu richten, der inzwischen ein paar Dinge auf der Tafel gesammelt hatte und die Schüler darum bat, diese abzuschreiben.
„Hey, Sissy!“, wisperte es abermals. Chad wollte nicht reagieren. Wenn er dies täte, würden sie ihn nur weiter hänseln. Nicht, dass sie das nicht ohnehin schon taten, aber er hasste es einfach, wenn man ihn Sissy nannte! Und das nur, weil seine Initialien C.C. waren!
Die Stimme meldete sich abermals, dieses Mal deutlich eindringlicher und fordernder. „Sissy!“
„Nicht hinhören.“, ermahnte sich der Schüler in Gedanken. „Er will dich ganz sicher nur ärgern. Konzentriere dich auf den Unterricht!“ Zaghaft blickte er Hans an, der inzwischen etwas von einer Interphase erzählte. Er hatte keinen Plan, wovon der Typ da eigentlich sprach.
„Hey, bist du taub?“ Etwas Hartes traf ihn am Hinterkopf. Sein Kopf ruckte leicht nach vorne. Genervt wandte sich Chad um und erblickte den Übeltäter. Es war niemand anderes, als Florian. Ein kräftig gebauter, aber strohdummer Bursche, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihn zu ärgern. Schief grinste ihn der grobschlächtige Kerl mit dem schwarzen, gegelten Haar an. „Was ist?“
„Hi.“
Das war zu viel. Alle, die es bemerkt hatten, lachten schlagartig auf. Und Chad errötete. Mann, war das peinlich. Sein Blick ging nach vorne und er schaute nach, ob auch Claudia es bemerkt hatte. Sie hatte es. Noch in diesem Moment tuschelten sie und eine Freundin hinter vorgehaltener Hand und lachten einander kurz an. Chad war verletzt. Er senkte den Kopf und verschränkte die Arme. Es war eine überaus typische Körperhaltung für ihn.
Hans aber, der Biologie und Philosophielehrer, hatte es bemerkt. Er lächelte ebenfalls, aber es war ein offenes, warmherziges Lächeln, ganz anders als das der meisten anderen Anwesenden, die sich nur über Chad lustig machten. Der Lehrer hatte kurzes, aber volles, graues Haar und ein Gesicht, welches von einzelnen Falten durchsetzt war, die von seinem Alter kündeten.
Anders als das vieler anderer älterer Männer wirkte es aber nicht ernst, sondern zumeist heiter und fröhlich. Einen Augenblick später wirkte es aber überhaupt nicht mehr fröhlich, sondern streng und fordernd. Dominiert wurde sein Gesicht von einer rahmenlosen Halbmondbrille, die ihm einen überaus intelligenten Touch gab und durch die er den ungezogenen Schüler nun musterte. Unterstrichen wurde der erste Eindruck durch einen makellos reinen, weißen Arztkittel, den der Lehrer immer dann trug, wann immer er im Biologieraum war. Wie so oft kam Chad nicht umhin die Augen seines Lehrers zu betrachten. Er hatte geglaubt sie kurz aufglimmen zu sehen, aber das war gewiss nur ein Irrtum. Einen Augenblick zuvor waren sie nämlich nicht grünlich, sondern gelblich gewesen. „Seltsam.“, dachte er. „Hat das vielleicht etwas mit dem Licht zu tun?“
„Florian“, sagte der Lehrer plötzlich mit ernster Stimme und faltete seine Hände zu einem Dach, welches er nach unten richtete. Der angesprochene Junge hob erstaunt den Kopf und wandte seinen Blick dem Lehrer zu, der ihn durch seine ungerahmten Halbmondgläser eindringlich musterte. „Würdest du bitte vom Stuhl aufstehen und mir kurz zuhören?“
Florian legte ein schiefes Grinsen auf, was ihm etwas Verschlagenes und Verruchtes gab. „Gerne doch, Dr. Acula. Für sie tue ich doch alles.“, antwortete er und erhob sich, genauso wie es der Lehrer gewünscht hatte.
„Danke.“, sagte der Lehrer und setzte plötzlich ein warmes Lächeln auf. Florian schwante Übles, wenn man seinem Gesichtsausdruck Glauben schenken durfte. „Das war es auch schon. Du kannst dich wieder hinsetzen. Setzen, sechs.“
Abermals lachte die Klasse auf und nun war es Florian, der überrascht guckte und sich dann prompt wieder hinsetzte. Sowas hatte er auch noch nicht erlebt. Dr. Acula hingegen zwinkerte Chad kurz zu, bevor er sich wieder dem Unterricht widmete. Und auch er kam nicht umhin lächeln zu müssen. Zaghaft, aber immerhin, Chad lächelte.
Der Rest der Stunde verlief ereignislos. Chad versuchte, dem Unterricht zu folgen und schaffte es, ein paar Dinge mitzuschreiben. Dass ihm Stoff fehlen würde, war ihm aber egal. Er war ohnehin schlecht in Biologie. Tiefer konnte er kaum noch sinken. Sollte er ruhig noch weiter absacken. Dies war das erste Halbjahr, also konnte es ihm noch relativ egal sein, was aus seiner Biologie Note werden würde.
Er wollte gerade aufstehen, als er plötzlich hörte, wie Dr. Acula nach ihm rief. „Chad? Könntest du bitte kurz warten? Ich muss ein paar Dinge mit dir besprechen.“
Einige Schüler begannen aufgeregt zu tuscheln, während sie hinaus gingen. Gewiss würde man wieder hinter vorgehaltener Hand über ihn lästern, so wie sonst auch. Er hasste sein Leben. Sehr sogar.
Chad seufzte auf. „Geht in Ordnung. Ich hatte heute eh nichts vor, warum also nicht warten?“
„Danke.“, entgegnete Hans vollkommen aufrichtig. „Ich bin froh, dass du das so siehst.“ Er wandte sich um und legte dem hinausgehenden Florian die Hand auf die kräftige Schulter. „Und du bleibst kurz stehen und wartest bitte einen kurzen Moment. Ich möchte kurz etwas mit dir durchsprechen.“
Der Schüler gehorchte. Er konnte auch gar nicht anders. Neugierig blickte er zwischen Chad und Dr. Acula hin und her. Der Schalk glomm in seinen blauen Augen auf. Er wusste zwar nicht, was hier vor sich ging, aber offenbar versprach es spannend zu werden.
„Warum tust du das, Florian? Warum ärgerst du den armen Chad?“
Der Angesprochene zuckte mit einer Schulter. „Weiß ich doch nicht.“
Dr. Acula schüttelte den Kopf. „Du glaubst selbst doch kein Wort von dem, was du da gesagt hast. Du solltest ihm das Leben nicht noch weiter unnötig erschweren, weil er es ohnehin schon nicht leicht hat. Das weißt du doch.“
Langsam nickte Florian. Er gab vor zu verstehen, aber innerlich ärgerte sich Chad. Das Verhalten dieses Idioten war doch nichts anderes, als eine Farce! Er tat dies nur, um Hans ruhig zu stellen. Kurz wanderte sein Blick zu Dr. Acula rüber und dachte sich: „Du wirst doch wohl nicht auf diese Schmierenkomödie reinfallen… oder etwa doch?“
Chad war sich unsicher, ob Hans verstand, was hier vor sich ging, schwieg aber lieber, um unliebsamen Besuch durch Florian vorzubeugen.
„Florian…“, begann Dr. Acula langsam und blickte den Angesprochenen ernst an. “Du und ich, wir wissen beide, dass du dich bessern solltest, aber wie es scheint, liegt die Besserung in weiter Ferne, denkst du nicht auch so, oder siehst du das etwa anders?” Abermals durchbohrte der Blick des Lehrers den Schüler. Hätte Chad einen solchen Blick abgekommen, er hätte sich noch mulmiger gefühlt, als ohnehin schon.
Es war ein starrer, eiskalter Blick, den man so gar nicht von diesem Mann kannte, der sonst so freundlich war.
„Nein, Sir.“, murmelte Florian zaghaft und senkte den Blick. Er schien aufzugeben. „Wird nicht wieder vorkommen. Ehrlich.“
Hans seufzte auf. Sein Blick wirkte enttäuscht. Es war offensichtlich, dass er den Worten des Schülers abermals keinen Glauben schenkte. Und das bestimmt auch mit gutem Grund, denn Dr. Acula schien immer zu wissen, wann jemand ihn anlog.
„Florian“, sagte er und deutete zeitgleich mit dem Zeigefinger auf den Ausgang. „so kann es wirklich nicht weiter gehen. Geh jetzt. Du wirst hier nicht mehr gebraucht.“
Erleichtert packte den Schüler seinen Ranzen und schulterte ihn sogleich. Er warf Chad ein fieses Grinsen zu, bevor er sich zum Gehen wandte. Dabei legte er großen Wert darauf, dass Hans es nicht bemerkte. Kaum, dass er aber im Türrahmen stand, wandte sich Hans erneut an ihn. „Ach, noch etwas. Weder du, noch ich wollen, dass du eine sechs bekommst, nicht wahr? Ich biete dir an, den Stoff dieser Stunde zu Beginn der nächsten vorzutragen. Bringst du eine gute Leistung, dann vergessen wir die Sache, einverstanden?“
„Geht klar.“, meldete sich der Schüler erfreut zu Worte, ehe er die Tür geräuschvoll hinter sich schloss und verschwand. Kaum war das Schloss eingerastet, schon seufzte Chad auf und ließ die Schultern hängen.
Chad war leicht enttäuscht. Dr. Acula hatte es dem Schüler leichter gemacht, als er es getan hätte. Wäre er an seiner Stelle gewesen, er hätte dem Mistkerl eine Abreibung verpasst. Zornig blickte er auf die Tür, ehe er sich dem Lehrer zuwandte. „Sie wollten mich sprechen?“, fragte er zögerlich. Die Stimme klang leise und schwach. Wie immer, wenn er mit anderen Menschen sprach.
„Es ist nicht besser geworden, was?“, erkundigte sich der Lehrer plötzlich und musterte den Jungen durch seine Halbmondbrille. Er war ein wirklich seltsamer Anblick, wie er da so mit verschränkten Armen stand. In sich gekehrt und introvertiert.
Der Junge wirkte schwach, was wohl an seiner dürren Figur, aber auch an seiner blassen Hautfarbe lag, die deutlich von seinem struppigen, blonden Haar unterstrichen wurde. Die Haare waren mittellang, zerzaust und verwildert, aber vor allen Dingen waren sie ungepflegt. Kein sonderlich schöner Anblick, wenn man es sich recht überlegte. Aber wieso sollte man sich auch pflegen, wenn man keine Freunde hatte, oder sonstige soziale Kontakte?
Mitleidig begutachtete der Lehrer den Jungen von oben bis unten und beobachtete, wie Chad den Kopf senkte. „Das heißt wohl Ja.“, fasste der Lehrer seinen Eindruck kurz und knapp zusammen. „Und du willst immer noch nicht recht aufpassen, nicht wahr? Ich opfere doch bereits meine Freizeit für dich, indem ich dir Nachhilfestunden gebe und ich kann auch nicht noch nachsichtiger mit dir umgehen, weil das wäre eindeutig der falsche Weg.“
Der Blick des Jungen senkte sich immer weiter gen Erdboden. Kein gutes Zeichen. Er hielt es anscheinend für das Beste zu schweigen, also übernahm er wieder das Wort.
„Wir beide wissen, dass du nicht auf den Kopf gefallen bist, aber du bist, ich kann es wirklich nicht anders sagen, einfach zu faul.“
Chad zuckte mit den Achseln. Die Beine waren verschränkt und zeigten zur Tür, es war offensichtlich, woran er gerade dachte. „Bio ist halt einfach nicht mein Ding.“
Dr. Acula grinste. „Dann muss ich dir wohl weiterhin Nachhilfe geben. Aber nimm dir ruhig deine Sachen und geh, ich habe noch ein paar Dinge zu tun. Außerdem scheinst du eh keine Lust mehr zu haben, mit mir zu reden. Wir sehen uns dann später bei der Nachhilfe.“
Darauf hatte Chad gewartet. Beinahe ebenso schnell wie Florian, griff er sich seine Sachen und hastete zum Ausgang. Sein Gang war normalerweise langsam und schlurfend, dieses Mal war er zwar nicht sonderlich eleganter, aber dafür umso schneller. „Ach, warte noch einen Moment.“, rief der Lehrer plötzlich aus, als habe er etwas vergessen. Chad drehte sich um und blickte zurück. Hans lächelte ihn zaghaft an und seufzte kurz auf. „Pass gut auf dich auf und nimm dir nicht so zu Herzen, was dir die anderen antun, ja?“
Chad seufzte auf. „Klar doch.“, murmelte er. „Als hätte ich da eine Wahl.“
Langsam schloss sich die Tür hinter ihm. Der Lehrer aber blickte ihm noch kurz hinterher und schüttelte dann leicht den Kopf. Er nahm seine Aktentasche und räumte alle Sachen zusammen, ehe er sich dann ebenfalls auf den Weg machte, um sich in sein Büro zu begeben. Es wurde Zeit für eine Tasse Tee, die hatte er sich jetzt nämlich redlich verdient.