Chronicles of Anárion
Kapitel I - Exorsus
Am Anfang von allem stand der Abgrund; ein unendliches Gebiet des Chaos, das tausende von leblosen Welten miteinander verband.
Über unzählige Jahre schlummerte der Abgrund; nur seine ungebändigten Energien durchströmten die Ewigkeit.
Doch dann, weit vor Beginn der Zeit, begannen sich aus diesen Magien dreizehn Wesen zu entwickeln.
Erst waren sie klein und schwach, doch sie nährten sich von den Strömen des Chaos und wuchsen.
Aber es sollten erneut Millennien vergehen bis der Erste von ihnen sich erhob und erkannte, dass er war und zum ersten Mal nahm er den mächtigen Pulsschlag des Abgrundes war.
Wenige Herzschläge später folgten ihm die restlichen zwölf.
Die Míriel, die Erstgeborenen, waren entstanden.
Der erste der erwacht war gab sich selbst den Namen Aldaeranus, was in der neuen Sprache der Zwölf „Ursprung“ bedeutete.
Elf der zwölf jüngeren Míriel erkannten Aldaeranus’ Wissen und seine Weisheit neidlos an; sie verneigten sich vor ihm und schworen, ihm bei seinen Werken beizustehen.
Der Dreizehnte aber, Ra’un geheißen, sträubte sich.
Er war der einzige, der von den anderen abwich, sowohl von seinem Verhalten als auch von seinem Äußeren.
Die Zwölf waren allesamt wunderschön, hatten klare, wissende Augen, gütige Gesichter, spitze Ohren und je zwei elegante, majestätische Schwingen, die mit Federn bedeckt waren.
Ra’un dagegen war finster und schrecklich anzusehen.
Er sah aus wie ein Schatten ohne feste Gestalt und jedes lebende Wesen das ihm jemals ins Antlitz blickte, spürte eine abgrundtiefe Furcht, die es bis ins Mark durchdrang.
„Warum sollte ich dir nachfolgen?“, fragte er seinen älteren Bruder. „Du hast dir meine Treue nicht verdient.“
„Willst du dich gegen den Willen deiner Brüder und Schwestern stellen, Ra’un?“, fragte Aldaeranus streng.
„So sei es!“, entgegnete Ra’un und sah sein Gegenüber zornig an. „Nichts gibt es, das es rechtfertigt, dich zum Größten der Dreizehn zu erwählen. Mehr noch; ich beanspruche dies Privileg, denn ich bin der machtvollste von uns.“
Das stimmte, denn lange bevor er erwacht war, hatte Ra’un bereits einen Pakt mit den dunkelsten Kräften, die im Abgrund am Werke waren geschlossen und sie hatten ihm Mächte verliehen, die jene seiner Brüder und Schwestern bei Weitem überstieg.
„Deine Stärke macht dich nicht zum Anführer.“, erwiderte Aldaeranus. „Viele große Aufgaben liegen vor uns; Aufgaben, die zu lösen mehr als nur Kraft erfordert.“
Ra’un senkte den Kopf.
„Dann beuge ich mich deinem Spruch, Bruder.“, antwortete er mit geheuchelter Demut.
Aber in seinem Innersten ersann er bereits neue, dunkle Pläne um die Macht an sich zu reißen.
Die Míriel jedoch, denen Heimtücke und Boshaftigkeit fremd war, glaubten ihrem Bruder und verziehen ihm sein Verhalten.
Nach diesem Streit begann Aldaeranus damit, Leben auf den toten Welten auszusäen.
Auf jedem Planeten schuf er eine kleine Anzahl von unsterblichen Wesen, die sie bevölkerten.
Viel später wurden diese ersten Kreaturen von den jüngeren Völkern der Míriel als Götter verehrt.
Ungezählte Jahre verstrichen und die Míriel wachten über die von ihnen geschaffenen Kreaturen und fügten ihnen immer weitere hinzu.
Ra’un aber sonderte sich ab und begann damit, auf den finstersten und abgelegensten Welten Wesen zu züchten, von denen die anderen nichts wussten.
Er nannte sie Daemoi’inä, Kinder der Dunkelheit.
Im Verlaufe vieler Jahre veränderte sich der Begriff und schließlich wurden Ra’uns Schöpfungen als Dämonen bekannt und gefürchtet.
Im Gegensatz zu den anderen Míriel beschloss Ra’un, seine Wesen sich selbst zu überlassen.
Um den Schein zu wahren kehrte er zu den Zwölf zurück und half ihnen beim Bau ihres Heiligtums; des Saals des Schicksals, mitten im Herzen des Abgrundes, jenes Raumes, in dem sich die Míriel über das Schicksal der Welten berieten.
Als der Saal vollendet war, stellte Aldaeranus ins Zentrum des Raumes das Auge; einen großen, klaren Kristall, der in der Lage war, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu zeigen.
Um das Auge gruppierte er kreisförmig dreizehn weiße Stühle.
Als seine Arbeit vollendet war, sprach er zu den übrigen Erstgeborenen.
„Der Saal des Schicksals ist nun vollendet! Hier werden wir zusammenkommen und hier werden wir tagen!“
Die anderen zwölf ließen sich in ihren Stühlen nieder.
Doch als Ra’un, der von der Finsternis, die ihn ausgespieen hatte, verdorben war, sich setzte, verfärbte sich sein Stuhl pechschwarz und all seine verborgenen Pläne waren enthüllt.
Aldaeranus sprang von seinem Stuhl auf und sah seinen Bruder vorwurfsvoll an.
„Noch immer verfolgst du deine hinterhältigen Pläne!“
Ra’un erhob sich ebenfalls und sah den Älteren hämisch an.
„Es überrascht mich, dass du es bisher noch nicht bemerkt hast, Bruder.“, entgegnete er. „Dein Vorhaben ist lächerlich und unnütz! Du besitzt all diese Macht und willst sie nur dazu nutzen, schwächere Wesen zu schützen?! Das ist Verschwendung. Macht dient zum Herrschen; zu nichts anderem!“
Die übrigen elf sahen den schwarzen Míriel wütend an.
„Wie kannst du dich gegen den Plan des Ältesten stellen?“, fragte Jarius, der blaue Erstgeborene.
„Schweig!“, herrschte Ra’un ihn an.
Ruckartig erhob er seinen schemenhaften Arm.
Eine Welle aus Finsternis breitete sich um ihn aus und warf alle übrigen zu Boden.
Nur Aldaeranus schien der Macht seines Bruders trotzen zu können.
„Hör auf damit!“, forderte er ihn auf.
„Ich denke nicht daran.“, widersprach Ra’un. „Und du kannst mich nicht stoppen. Wenn du aus dem Wege geräumt bist, kann mich keiner mehr davon abhalten, mir den Abgrund zu Eigen zu machen!“
Mit diesen Worten richtete er seinen rechten Arm auf die Brust Aldaeranus’.
Die klauenartige Hand verformte sich und bildete eine geschwungene, lange Klinge.
„Hör auf!“, wiederholte Aldaeranus, diesmal mit mehr Nachdruck.
„NEIN!“
Ra’un hob seine Klinge und rannte wutentbrannt auf sein Gegenüber zu.
„Dies wird dein Tod sein!“, schrie er und hieb zu.
Die schwarze Klinge zerschnitt das Gespinst der Realität und verursachte dabei ein unerträglich lautes, kreischendes Geräusch, dessen Echo bis in alle Ewigkeit durch den Abgrund hallen wird.
„Es reicht!“
Aldaeranus hielt der Klinge seine bloßen Handflächen entgegen.
Als die Klinge auf sie traf, begannen sie in einem hellen Schein zu leuchten.
Auch Aldaeranus’ Haut und Flügel, für gewöhnlich von einem hellen Grau, begannen weiß zu erstrahlen.
Gleichzeitig fügte sich der Riss in der Realität, den Ra’uns Klinge verursacht hatte, wieder zusammen.
Fassungslos sah Ra’un seinen älteren Bruder an.
Das Leuchten, das von ihm ausging, gewann nochmals an Intensität, sodass sich der schwarze Míriel abwenden musste um nicht geblendet zu werden.
„Aber... wie...“
„Du hast niemals meine volle Macht kennen gelernt, Ra’un.“, erklärte dieser mit ruhiger Stimme. „Ich war nicht nur der erste von uns; ich bin auch derjenige, der allein noch von den ungebändigtsten Magien genährt wurde. Du bist Hass, Dunkelheit und Zorn. Aber ich – ich bin alles andere, für das der Abgrund steht. Im Gegensatz zu dir jedoch trage ich meine Kräfte nicht offen zur Schau. Doch nun wirst du sie kennen lernen.“
Langsam spürte Ra’un, wie seine Klinge von Aldaeranus’ bloßen Händen aufgelöst wurde.
Mit all seiner Willensanstrengung versuchte er, seinen Bruder davon abzuhalten, aber er war unterlegen.
Bald war seine Klinge vollkommen verschwunden und Aldaeranus’ Haut und Flügel wurden wieder grau.
Ra’un wich Schritt für Schritt vor seinem Gegenüber zurück.
„Du hast dich offen gegen mich gestellt.“, sprach Aldaeranus und sah den vor ihm
weichenden Schatten kalt an. „Das allein könnte ich dir noch nachsehen; doch du hast auch deine Brüder und Schwestern angegriffen. Dies kann nur eine Bestrafung zur Folge haben.“
Er machte eine lange Pause und holte tief Luft.
„Ich verbanne dich aus unserer Mitte. Du bist nicht länger ein Míriel. Von nun an bist du ein Schatten; ein finsteres Nichts, dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit durch die endlose Leere der Randgebiete des Abgrundes zu schweifen.“
„Aber... ich bitte dich... Bruder...“, stammelte Ra’un. „Das... das kannst du nicht ernst gemeint haben!“
„Niemals zuvor war mir etwas so ernst.“, antwortete Aldaeranus. „Und nun geh! Du bist in diesem Saal nicht länger willkommen!“
Ra’un sah ihn noch einmal an.
Seine Hilflosigkeit wich einem heißen, alles verzehrenden Zorn.
„Das hast du nicht umsonst getan!“, schrie er. „Dir und deinen blinden Gefolgsleuten kann ich vielleicht nichts anhaben; aber deine Schöpfungen sind schwach! Wie nennst du sie? Elfen, Zwerge, Menschen, ... Bald werden sie nicht vielmehr als eine sterbende Erinnerung sein! Das schwöre ich!“
Ruckartig drehte er sich um und ging schnellen Schrittes davon.
Aldaeranus sah ihm nach, einen Moment lang unentschlossen, ob er ihn aufhalten sollte.
Doch dann entschied er sich dagegen.
‚Er wird niemals so abgrundtief fallen, dass er meine Schöpfungen angreift.’, dachte er.
‚Wie sehr du dich doch irrst; Bruder! Schon bald werden meine Daemoi’inä über deine schwächlichen Kreaturen herfallen und sie auslöschen!’
Ende Kapitel I