Der Einsendschluss ist nun Abgelaufen und ich hab, oh staune, ganze 3 Einsendungen bekommen XDD
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Zweite Einsendung

Ich bin Liam

Wer ich bin? Eine täuschend einfache Frage.
In vielerlei Hinsicht bin ich wie Sie. Ich besitze eine kleine Wohnung, gehe einer geregelten Arbeit nach und zahle meine Steuern meistens pünktlich.
Und ich bin ein Vampir. Das schockiert Sie vermutlich. Die meisten Menschen würden so reagieren wie Sie. Und genau das ist das Problem. Die Menschen fürchten sich vor allem, was sie nicht verstehen. Und sie neigen dazu, die Dinge zu zerstören, die sie fürchten.
Aus diesem Grunde haben wir uns über Jahrhunderte vor ihnen versteckt. Das Jagen von Menschen wurde bei Todesstrafe verboten. Diejenigen, die sich widersetzten, wurden von eigens dafür ausgebildeten Exekutoren gejagt und unschädlich gemacht. So konnte unser Volk unbehelligt die Zeiten überdauern. Zwar trafen wir vereinzelt auf Menschen, die zu wissen glaubten, dass es uns gab, doch haben wir es immer geschafft, sämtliche Beweise unserer Existenz zu zerstören.
Aber schließlich erschien einer, der sich nicht entmutigen, der sich durch unsere Sabotage nicht aufhalten ließ. Ein ehemaliger Reporter. Sein Name war Rupert Standley und er war wie besessen davon, unsere Existenz publik zu machen. Zu Beginn verfuhren wir mit ihm wie mit den anderen, die vor ihm gekommen waren. Wir zerstörten seine Dokumente, wir verursachten unerklärliche Unfälle, wir machten ihn unglaubwürdig. Nichts hielt ihn auf. Niemals habe ich einen penetranteren Menschen getroffen als ihn. Und genau diese Eigenschaft wurde ihm zum Verhängnis. So tragisch seine Geschichte auch sein mag, man kann doch einige Lehren daraus ziehen. Zum einen natürlich, dass unerschütterliche Hartnäckigkeit keine zwingend positive Eigenschaft sein muss. Zum anderen aber auch, dass es Dinge gibt, die zu Recht von den Menschen gefürchtet werden...

Es war eine wolkenverhangene Nacht im Juni 2012. Seit Stunden schon stand ich in einer schmalen Gasse zwischen zwei heruntergekommenen Wohnhäusern in Whitechapel und wartete. Worauf ich wartete? Das wusste ich nicht. Man hatte mich lediglich darüber informiert, dass Standley sich in ebenjener Nacht mit einem Informanten treffen wollte. Von meiner derzeitigen Position aus hatte ich den Treffpunkt gut im Blick, aber bisher schien es, als würde ich vergeblich warten.
Dann, endlich, etwa zwanzig Minuten nach Mitternacht, erschien eine schlanke, große Gestalt, die vollkommen in weiß gekleidet war und es dennoch mühelos fertigbrachte, sich so unauffällig zu verhalten, dass ich sie beinahe übersehen hätte. Ich erkannte sie sofort. Es war Charles, ebenfalls ein Mitglied der Londoner Vampirgemeinde. Mehr noch, er war einer der Jäger, die vom Rat zu dem Zweck entsandt wurden, Abtrünnige zu neutralisieren und daher war er selbstverständlich in der Kunst geschult, sich vor anderen Vampiren zu verbergen.
Was er allerdings ausgerechnet in dieser Nacht in Whitechapel wollte konnte ich mir nicht erklären. Es gab keinen ersichtlichen Grund für einen Jäger, sich dort aufzuhalten; die meisten Abtrünnigen verließen London so schnell wie nur irgend möglich.
Ich hatte allerdings nicht viel Zeit, über dieses Rätsel zu grübeln, denn schon näherte sich eine zweite Person. Es war Standley. Seinen schwankenden Gang, die untersetzte Statur und sein abgetragenes, zerknittertes Sakko hätte ich unter hunderten wiedererkannt.
Zielstrebig ging er auf Charles zu und blieb direkt vor ihm stehen. Ich konnte sehen, wie die beiden die Köpfe zusammensteckten und etwas besprachen, aber sie waren so leise, dass nicht einmal ich etwas verstehen konnte. Ihr Gespräch dauerte ungefähr zwei Minuten, dann griff Charles in eine seiner Manteltaschen, förderte einen etwa kreditkartengroßen Gegenstand zutage und reichte ihn Standley, welcher ihn mit offenkundiger Begeisterung entgegennahm. Charles nickte einmal knapp, wandte sich um und ging. Er entfernte sich nur wenige Schritte, dann hatte die Dunkelheit der Nacht ihn vollständig verschluckt.
Standley sah noch einige Sekunden auf die Stelle, an der der Vampir verschwunden war bevor er die Karte wieder aus seiner Tasche zog und in einen kleinen PDA schob.
Er stand mehr als fünfzig Meter von mir entfernt, dennoch bereitete es mir natürlich keine Schwierigkeiten, den Text, der nach wenigen Sekunden auf dem Display des PDA erschien, zu lesen – und was ich da las, ließ mir eisige Schauer den Rücken hinab rinnen.
Es war eine Liste der Vampire Londons, inklusive einer großen Anzahl an genetischen Fingerabdrücken, die nur zu offensichtlich nicht menschlich waren. In diesem Moment war es mir völlig egal, wie Charles an eine solche Liste gekommen war, es gab Probleme, die dringender waren.
Wenn eine solche Liste an die Öffentlichkeit gelänge... es würde unüberschaubare Konsequenzen nach sich ziehen. Natürlich, eine Namensliste allein war kein hinreichender Beweis, und auch genetische Daten konnten gefälscht werden, aber richtig aufbereitet würden die Daten einige höchst unangenehme Untersuchungen zur Folge haben.
Das durfte nicht geschehen.
Unendlich langsam griff ich nach dem kurzen Heft des Dolches, den ich seitlich an meinem Gürtel trug. Mein Herz trommelte schmerzhaft gegen meine Rippen als ich mir bewusst machte, was zu tun war, doch ich wusste, dass es keine Alternative mehr gab. Standley hatte die Grenze letztendlich überschritten; er war zu gefährlich für die Gemeinde geworden um ihn am Leben zu lassen.
Natürlich war ich bereits im Vorfeld meines Auftrages autorisiert worden, Standley auszuschalten, sollte dies notwendig werden, aber ich hätte niemals damit gerechnet, dass dieser schlimmste anzunehmende Fall tatsächlich eintreten würde. Ich zog den Dolch und wog ihn in der Hand.
Was wäre, wenn ich den Mann entkommen ließe? Vermutlich würde sowieso niemand die Liste ernst nehmen. Es gab viele Menschen wie Standley, die glaubten, Beweise für Verschwörungen gefunden zu haben, und in den meisten Fällen wurden sie für unglaubwürdige Irre gehalten.
Ich drängte die Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf Standley. Der war inzwischen damit beschäftigt, etwas in den PDA einzugeben.
Schlagartig riss ich mich in die Gegenwart zurück. Der Mann war dabei, die Dateien an eine Kontaktperson zu schicken. Ich fluchte innerlich. Wieso hatten wir niemals bedacht, dass er einen Partner haben könnte? Es war klar, dass seine Botschaft den mysteriösen Zweiten niemals erreichen durfte. Ich holte ein letztes Mal tief Luft und rannte los.
Binnen weniger Herzschläge hatte ich die Distanz beinahe überbrückt. Erst nachdem ich nur noch wenige Meter von Standley entfernt war, bemerkte er mich und fuhr erschrocken herum. Doch ich hatte den Dolch bereits erhoben und stieß in eben dem Moment zu, in dem in Standleys Augen die Erkenntnis aufflackerte, was ich war und wer mich geschickt hatte.
Die scharfe Klinge drang mühelos durch seine Brust und hinterließ nichts außer einem beinahe harmlos aussehenden Einstich. Standley stand noch für einige Sekunden aufrecht, dann verließen ihn die Sinne und er sackte in sich zusammen. Der PDA rutschte zwischen seinen kraftlosen Fingern hindurch und fiel mit einem Krachen zu Boden, das unverhältnismäßig laut durch die nächtlichen Straßen Whitechapels hallte.
Einige Augenblicke war ich wie versteinert, dann senkte ich den Blick und ließ ihn von der Dolchklinge, an der noch das Blut Standleys haftete, zu dem reglosen Körper schweifen, der vor mir auf dem Gehweg lag. Die Endgültigkeit meiner Handlung überkam mich mit voller Wucht. Ein Mensch war tot. Ein Mensch, dessen einziger Fehler darin bestanden hatte, dass er zu hartnäckig gewesen war. Meine Hände begannen zu zittern und der Dolch entglitt ihnen. Ein zweites Mal hallte ein unnatürlich lautes Klirren durch die Straßen.
Ich riss mich zusammen. Es war noch nicht an der Zeit, um zu trauern. Zu viel war noch zu klären. Wieso hatte Charles einem Menschen Informationen überlassen, die zum Zusammenbruch unserer Gemeinde führen konnten? Und wer war Standleys Partner? Sicher würde er vom Tod des Reporters erfahren und ebenso sicher würde er wissen, wer dahinter steckte. Ich bückte mich um den Dolch aufzuheben. Dabei streifte mein Blick das Display des PDA, der inmitten von Standleys Blut vor mir lag. Sofort stieg mir der nur zu vertraute metallische Geruch in die Nase. Ich ekelte mich vor dem Geruch, doch konnte ich spüren, wie der schreckliche Durst, der jedem Vampir innewohnt, in mir aufstieg. Gerade noch rechtzeitig konnte ich meine Aufmerksamkeit auf das unscheinbare, schwarze Gerät inmitten der tiefroten Lache lenken. Zwar zog sich ein langer Sprung über das Display, aber es hatte seinen Fall doch gut überstanden und zeigte noch immer die letzten Worte an, die vor meinem Angriff darauf zu lesen gewesen waren.

„Mitteilung erfolgreich gesendet.“

Mit einem Schlag war jeder Gedanke an das noch warme Blut vergessen – fortgespült von der grausigen Erkenntnis, dass die Welt, so wie ich sie kannte, unwiederbringlich verloren war. Erneut verspürte ich einen eisigen Schauer. Ich schnappte mir Dolch und PDA, richtete mich auf und rannte los. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Jede Minute die verstrich konnte verhängnisvoll sein. Ich erreichte das Motorrad, dass ich in der schmalen Gasse abgestellt hatte aus der ich gekommen war und schwang mich hinauf. Mit quietschenden Reifen raste ich los. Erst als ich mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung der Ratskammern unterwegs war, wurde mir wirklich bewusst, was alles in dieser Nacht geschehen war.
Ich hatte einen Menschen getötet. Mehr noch: Sein Tod war absolut sinnlos gewesen, denn das Geheimnis, das ich mit dieser Tat zu bewahren gehofft hatte, war nicht mit ihm gestorben. Die Gemeinde war in höchster Gefahr und ich hatte nicht den leisesten Hauch einer Idee, wie das drohende Unheil noch abzuwenden gewesen wäre.

Sie sehen also, ich bin nicht nur ein Vampir - ich bin der Vampir, der zugelassen hat, dass die Menschen von uns erfahren konnten - ich bin der Vampir, der Schuld an der beinahe vollständigen Vernichtung beider Arten hat, denn durch mein Versagen wurde der Große Krieg ausgelöst. Ich bin Liam.

Ende