Dass Inzest den Genpool schädige, ist verbreitete Meinung
Da kommen doch behinderte Kinder raus! Den Vorwurf kennt sie, auch den Abscheu, als setze sie Wechselbälger in die Welt. Das monströse Kind, das nicht natürlich gezeugt, sondern von Hexen untergeschoben wird, der elternverschlingende Krüppel, Dickkopf, Kielkropf: Daran glaubt heute natürlich keiner mehr. Trotzdem ist das erste Argument gegen Inzest stets die Missgeburt. Wer Einwände wagt, dem werden ganze Alpendörfer volksgesundheitsgefährdender und krankenkassenbelastender Inzestkinder vor Augen gehalten. Seit der Radikaleugenik der NS-Zeit, als durch Zwangssterilisation, Euthanasie und schließlich Holocaust die Rassenhygiene ins Wahnhafte gesteigert wurde, sprechen die Deutschen zwar nicht mehr laut von »lebensunwertem Leben«. Aber dass Behinderte die Gemeinschaft belasten, Inzest den Genpool schädige, ist verbreitete Meinung.
Deshalb hat der renommierte Strafrechtsanwalt Endrik Wilhelm seiner Verfassungsbeschwerde für Patrick S. eine lange Passage zur Volksgesundheit beigefügt. Tatsächlich führt inzestuöse Fortpflanzung nicht zur Degeneration von Erbgut. Durch deckungsgleiche Erbanlagen erhöht sich nur die Wahrscheinlichkeit, dass vorhandene »defekte« Gene, die bei den Eltern rezessiv waren, beim Kind dominant werden. Dieses Risiko besteht bei allen Menschen. Humangenetiker nennen eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 bis 3 Prozent bei »normalen« Paaren, bei Geschwisterpaaren 25 bis 40 Prozent. Diese Zahlen sind jedoch anfechtbar, da sie auf schmalen empirischen Studien aus den sechziger und siebziger Jahren beruhen. Entscheidend ist heute, dass Menschen mit erhöhtem Risiko, behinderte Kinder zu zeugen, sich nach deutschem Recht nicht strafbar machen, wenn sie dieses Risiko eingehen – Behinderte ebenso wenig wie Spätgebärende. Denn das Grundgesetz weist allem menschlichen Leben einen absoluten Achtungsanspruch zu.